Geschichtliche und heutige Bedeutung des Magdeburger Rechts

Dr. Uwe Wegehaupt, Präsident des Oberlandesgerichts in Naumburg

Ein Richter hat die Aufgabe, Recht zu sprechen. Um ein gerechtes Urteil fällen zu können, muss er – neben dem zu beurteilenden Sachverhalt –  das geltende Recht kennen. Das gilt für den Richter der heutigen Zeit genauso, wie es für den Richter im Mittelalter galt.

Um den Einfluss des Magdeburger Rechts auf das heutige Rechtssystem beurteilen zu können, muss zunächst geklärt werden, welchen Inhalt das Magdeburger Recht hatte, bevor ein Vergleich mit dem heutigen Recht gezogen werden kann.

I.

Während das heute geltende Recht (Gesetze, Rechtsverordnungen, Satzungen, Richtlinien etc.) fast ausschließlich schriftlich niedergelegt (kodifiziert) ist (z. B. in Gesetzblättern, Verwaltungsblättern, Ministerialblättern, Amtsblättern etc.), ist das Magdeburger Recht nicht kodifiziert worden. Es hat sich im Laufe der Jahre in mehreren Schritten aus dem Gewohnheitsrecht der Kaufleute, aus den vom Landesherrn der Stadt gewährten Rechten (Privilegien) und schließlich im Rahmen der städtischen Selbstverwaltung aus selbstbestimmten Regelungen entwickelt. Es ist daher nicht einfach, den Inhalt des so entstandenen Magdeburger Rechts festzustellen. Es gibt allerdings einige schriftliche Quellen, aus denen sich das Magdeburger Recht erschließen lässt:

1.

Mittelbare Nachweise von einem Kaufmanns- und Marktrecht in Magdeburg existieren bereits seit dem 10. Jahrhunderts, denn in Urkunden aus dieser Zeit (die allerdings andere Städte betreffen) findet das Magdeburger Kaufmanns- und Marktrecht Erwähnung. Aus diesem Kaufmanns- und Marktrecht hat sich spätestens bis zum 12. Jahrhundert ein Stadtrecht entwickelt, denn der Stadt Stendal ist das Magdeburger Recht schon im Jahr 1145 verliehen worden ist.

2.

Einen ersten unmittelbaren Nachweis von der Existenz des Magdeburger Stadtrechts liefert das Privileg des Erzbischofs Wichmann von 1188 an die Stadt Magdeburg. Dieses Privileg enthält nur neun Abschnitte und dürfte damit nicht das gesamte Stadtrecht darstellen, sondern greift lediglich die nicht mehr als zeitgemäß betrachteten Regelungen auf, die Erzbischof Wichmann „nach Beratung mit den Bischöfen, Prälaten, Kanonikern, dem Burggrafen und den übrigen Getreuen“ abändert.

3.

Eine weitere Rechtsquelle stellen die Rechtsmitteilungen der Magdeburger Schöffen an andere Städte dar.

Das Magdeburger Recht war offenbar so überzeugend, dass es sich schnell verbreitete und von anderen Städten übernommen (rezipiert) wurde, vor allem von den neu gegründeten deutschen Städten östlich von Magdeburg. Aber auch weiter entfernte Städte wie Vilnius, Kaunas, Kiew und Minsk haben sich der „Magdeburger Stadtrechtsfamilie“ angeschlossen.

Die Rechtsprechung war in Magdeburg den Schöffen anvertraut. In Rechtsmitteilungen an den jeweiligen Landesherrn bzw. an die Bürger der mit dem Magdeburger Recht bewidmeten Städte haben die Magdeburger Schöffen ihr Recht dargestellt.

a) In einer undatierten, in Latein abgefassten Urkunde teilen die Schöffen der Stadt Magdeburg dem Herzog Heinrich I. von Schlesien (1201 – 1238) in 18 Sätzen ihr Recht mit. An welche Stadt in Schlesien diese Rechtsmitteilung gerichtet war, ist allerdings unbekannt.

b) Die Schöffen der Stadt Halle teilten auf Bitten Herzog Heinrichs I. von Schlesien in einer Rechtsmitteilung aus dem Jahr 1235 an die Stadt Neumarkt ihr Recht mit, das sie selbst als Magdeburger Recht bezeichneten. Diese Urkunde enthielt bereits 46 Paragraphen, in denen das Magdeburger Recht beschrieben wird.

c) Im Jahr 1261 schickten die Magdeburger Schöffen und Ratsmänner auf Bitte Herzog Heinrichs III. von Schlesien der Stadt Breslau eine in obersächsischem Dialekt geschriebene Mitteilung über ihr Recht in 64 Paragraphen. Im Jahr 1295 erfolgte eine weitere Rechtsmitteilung an die Bürger der Stadt Breslau.

4. Eine ergiebige Rechtsquelle stellen auch die Schöffensprüche dar.  

Der Magdeburger Schöffenstuhl galt als „Oberhof“. Das bedeutet, dass die Schöffen derjenigen Städte, die mit dem Magdeburger Recht beliehen waren, den Magdeburger Schöffenstuhl ihren Rechtsstreit darlegen und um Auskunft bitten konnten, wie das Recht in einem konkreten Fall auszulegen oder anzuwenden war. Von der jeweiligen Stadtverfassung hing es ab, ob diese Rechtsauskunft des Magdeburger Oberhofs als bindendes Urteil oder nur als Urteilshilfe angesehen wurde. Die Antworten des Magdeburger Schöffenstuhls, die teilweise bei den anfragenden Städten erhalten geblieben sind, geben ebenfalls Auskunft über das seinerzeit geltende Recht. In Magdeburg selbst sind die Aufzeichnungen des Magdeburger Schöffenstuhls während des dreißigjährigen Krieges vernichtet worden.

5.

Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts entstand von privater Hand das sog. Sächsische oder Magdeburgische Weichbild (Weichbild = Stadtrecht), ein Rechtsbuch, in dem das seinerzeit geltende Magdeburger Recht (auch in Verbindung mit dem Sachsenspiegel Eike von Repgows) in 137 Artikeln dargestellt worden ist.  

II.

Aus diesen Rechtsquellen lassen sich einige Regelungen des Magdeburger Rechts herleiten:

1.

Die Gerichtsverfassung Ende des 12. Jahrhunderts bestimmte, dass der Schöffenstuhl (das Gericht) aus elf Schöffen besteht, zuvor waren fünf Schöffen üblich. Die Schöffen wurden auf Lebenszeit gewählt und der Schöffenstuhl durfte ausgeschiedene Mitglieder – mit Bestätigung des Burggrafen – selbst ergänzen (Kooptation), was den Schöffen eine gewisse Unabhängigkeit gewährte.

2.

Im Prozessrecht wurde die sog. „vara“ abgeschafft (§ 1 des Wichmann‘schen Privilegs von 1188). Bei der „vara“ handelt es sich um die sog. Prozessgefahr. Zuvor galt im Prozessrecht der Grundsatz, dass die Parteien dem Gericht ihr Anliegen nicht in freier Rede vorgetragen haben, sondern an starre Formeln gebunden waren. Eine Partei konnte den Prozess verlieren, wenn sie sich nicht an diese Sprachformeln gehalten oder wenn sie sich versprochen hat. Für auswärtige Kaufleute, die mit diesen Redeformeln nicht vertraut waren, bestand daher ein hohes Prozessrisiko, das nunmehr weitgehend abgeschafft worden ist.

Im Interesse der auswärtigen Kaufleute sollten die Verfahren beschleunigt werden. Die Klage, an der ein Fremder als Kläger oder Beklagten beteiligt ist, sollte an demselben Tag „erledigt und zu Ende geführt“ werden (§ 7 des Wichmann‘schen Privilegs von 1188).

Die Ehefrau konnte selbständig vor Gericht auftreten, d. h. sie war prozessführungsbefugt.

Eine weitere prozessrechtliche Neuerung war die Einführung des Zeugenbeweises im Strafrecht anstelle der Blutrache und des Gottesbeweises durch gerichtlichen Zweikampf.

3.

Im Bereich des materiellen Strafrechts wurde die Sippenhaft abgeschafft (§ 2 des Wichmann’schen Privilegs). Ein Vater haftete jetzt nicht mehr für seinen Sohn, wenn er bei der Straftat des Sohnes nicht anwesend war oder sich nicht an der Tat beteiligt hat und er dies beweisen konnte. Eine ähnliche Regelung galt auch für Personen, die bei einer Schlägerei nur zufällig anwesend waren (§ 3 des Wichmann’schen Privilegs). Die Verjährung für Gewaltverbrechen wurde aufgehoben.

4.

Das Familienrecht enthielt den Grundsatz der Vormundschaft des Ehemanns. Vermögen, das die Frau in die Ehe einbrachte, war nur dann der Verwaltung des Mannes unterworfen, wenn sie es „in die Gewere“ des Mannes gab. Blieb Vermögen der Frau außerhalb der Gewere des Mannes, sonderte es sich in ein vorbehaltenes Frauengut ab.

5.

Einen weiten Raum nahm schließlich das Kaufmannsrecht ein. Neben den im Interesse der Kaufleute geschaffenen Prozesserleichterungen gab es Regelungen hinsichtlich des Warenkaufs, der Haftung für die Ware und der Pflicht zur Rechnungslegung und Buchführung.

III.

Auch wenn das Magdeburger Recht in einigen Städten bis in 19. Jahrhundert gegolten hat (z. B. in Kiew bis 1834), wendet es ein heute tätiger Richter natürlich nicht mehr an. Es gibt allerdings Regelungen im Magdeburger Recht, die immer noch oder wieder gelten und geradezu modern anmuten.

1. Unabhängigkeit der Richter

Nach Art. 97 des Grundgesetzes sind Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Gegen ihren Willen können hauptamtliche und planmäßig endgültig angestellte Richter grundsätzlich nicht an ein anderes Gericht versetzt oder entlassen werden.

Auch das Magdeburger Recht gewährte den Schöffen eine gewisse Unabhängigkeit, indem sie auf Lebenszeit ernannt wurden und sich deshalb nicht durch eine „geneigte“ Rechtsprechung vom Landes- oder Stadtherrn abhängig machen mussten. Außerdem konnte der Schöffenstuhl ausgeschiedene Schöffen selbst nachbenennen. Eine vergleichbare Regelung wird von den heutigen Richtervertretungen immer wieder eingefordert, um den Einfluss der Ministerialverwaltung auf die Besetzung von Richterstellen zu unterbinden und die Stellung der Unabhängigkeit der Richterschaft zu stärken.

2. Prozessbeschleunigung

Der Wunsch von Politik und Prozessparteien nach einer Beschleunigung gerichtlicher Verfahren wird seit Jahrzehnten regelmäßig erhoben. Zum Beispiel hat der Bundestag im  Jahr 1993 ein Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege beschlossen, um damit Gerichtsverfahren ohne Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung und der berechtigten rechtsstaatlichen Interessen der Bürger zu beschleunigen. Im Strafprozessrecht ist 1994 das beschleunigte Verfahren eingeführt worden. Auch das Zivilprozessreformgesetz vom 27. Juli 2001 hat das Ziel der Verfahrensbeschleunigung und –vereinfachung verfolgt. Da diese Maßnahmen nur wenig zu einem schnelleren Verfahren beigetragen haben, ist es auch in der Folgezeit immer wieder zu Gesetzesänderungen oder zumindest zu Gesetzesinitiativen (vorwiegend vom Bundesrat) mit dem Ziel einer Verfahrensbeschleunigung gekommen, ohne dass dieses Ziel erreicht worden ist.

Alle diese Regelungen gehen in ihrer Forderung nach Verfahrensbeschleunigung jedoch nicht so weit wie das Magdeburger Recht, das eine Verhandlung und Entscheidung über einen (Zivil)Rechtsstreit noch am Tag des Eingangs der Klage fordert. Mit einer solchen Beschleunigung wäre die heutige Justiz klar überfordert.

3. Anrufung des EuGH

Wenn das Gericht eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union europäisches Recht anzuwenden hat und sich Fragen über die Auslegung dieses Rechts stellen, kann das nationale Gericht dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) diese Frage zur Entscheidung vorlegen (Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union). Wenn das nationale Gericht letztinstanzlich entscheidet, d. h. wenn gegen die Entscheidung kein Rechtsmittel mehr eingelegt werden kann, muss das Gericht dem EuGH die Frage vorlegen. In diesen Fällen entscheidet der EuGH im Wege der Vorabentscheidung für das nationale Gericht bindend über diese Frage.

Diese europarechtliche Regelung, die dem deutschen Recht fremd ist, ähnelt dem Verfahren der Anrufung des „Oberhofes“, das die Rechtsfrage für das anrufende Gericht im Wege des Schöffenspruchs beantwortet hat. 

Dr. Uwe Wegehaupt, Naumburg, 26. Mai 2020